Donnerstag, 1. Dezember 2011

Unser Amerika

Von Claudio Lembo * Terra (Übersetzung aus dem Portugiesischen von Glória Leite / Überarbeitung: Günter Busse)

Seit Jahren exportierten sie Ideen. Sie schienen die ganze Wahrheit zu besitzen. Die Politik und die Rechtswissenschaft hatten nur eine Quelle. Es waren die europäischen Gedanken.

Der Rest der Welt war eine Kolonie, wenn nicht politisch, dann jedenfalls mental. Alle Formen des Denkens schienen in dem alten Kontinent geboren zu sein. Städte und Bräuche wurden importiert. Die lokalen Werte, verachtet.

In diesem Klima der Herrschaft wurden die Muttersprachen der Völker an den Rand gedrängt. Man sprach die Muttersprachen nur innerhalb der Häuser. Nie in der Öffentlichkeit.

Dieses Szenario war noch alarmierender in Spanisch-Amerika. Die hispanische Kolonisation unterdrückte alle Räume für die indigenen Völker. Die obligatorische Sprache war Spanisch.

Es war nicht anders an den Ufern des Atlantiks. Das Guarani und andere Sprachen wurden schon im achtzehnten Jahrhundert, durch ausdrückliche Bestimmung des Marquis von Pombal, verboten.

Sitten und Erfahrungen gingen verloren, durch aggressive und räuberische Kolonisatoren. Nur in wenigen Regionen wurden, dank der Bemühungen von ein paar selbstlosen Menschen, lokale Sprachen bewahrt.

Zum Beispiel ist in Paraguay die melodische Guarani-Sprache erhalten. Hoch in der Anden-Region versuchen die Peruaner und Chilenen die geplünderten Werte zurück zu erobern.

Amerika versucht seine Vergangenheit und seine ursprünglichen Quellen zurück zu gewinnen. Befreit sich langsam von einer der schlimmsten Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit: der geistigen Knechtschaft. Die Menschen denken schon wieder mit den lokalen Werten.

Wenn Menschen ihre Stimme in Bolivien erheben, ist es sehr lohnend. Das gleiche gilt für die Selbstbehauptung der Inkas, die wieder ihre historischen Sprachen sprechen.

Die Brasilianer brauchen sich nicht zu bemühen, die Vergangenheit zurück zu erobern. Unser Volk verfügt über eine vollständige Integration. Heute ist die Sprache einzigartig, bis auf begrenzte Ausnahmen, und sie wird von 200 Millionen Menschen gesprochen. Ein wahres Wunder.

Dieser Prozess der Dekolonisierung begann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 1945. Es gab einen großen Aufbruch in Asien und Afrika, wo die ehemaligen Kolonien sich befreiten und eigenen Nationalstaaten
schufen.

Die Kämpfe waren intensiv und es ist immer passend, daran zu erinnern, welche Grausamkeiten von den Europäern in den Kämpfen für die Unabhängigkeit der afrikanischen Völker begangen wurden.

Es war bedauerlich, was die Belgier getan haben. Sie verhinderten, dass die Eingeborenen Schulen besuchen konnten, und als die libertäre Explosion begann, gab es im Kongo nur siebzehn Graduierten.

Nur ein Beispiel unter vielen anderen. Warum so viele Erinnerungen? Es scheint wie eine Nostalgie ohne Grund zu sein. Es ist aber nicht so. Die aktuellen Nachrichten aus europäischen Quellen erregen wieder Besorgnis.

Die europäischen Staats-und Regierungschefs wollen ihr wirtschaftliches Denken in Lateinamerika durchsetzen und kündigen öfter den Beginn einer wirtschaftlichen Katastrophe für diesen Kontinent an.

Sie irren sich. Viele südamerikanische Regierungen haben sich mit den Werten ihren Bevölkerungen identifiziert und akzeptieren nicht mehr passiv die externen Zumutungen. Sie geben Beispiele für solide wirtschaftliche Ausrichtung.

Politisch sind die Echos, die aus Europa kommen, negativ. Als die Griechen, massakriert durch die Finanzkontrolle und den Egoismus der externen Banker, wünschten gehörten zu werden, wurden sie abgelehnt.

Ein Referendum, um den Willen des Volkes über die Wirtschaftskrise zu erfassen, wurde von den Europäern abgelehnt. Die Griechen wurden gezwungen den Mund zu halten und den Willen von ein paar Technokraten
zu akzeptieren.

Beklagenswert die Positionen von Personen, die Erben von demokratischen Traditionen und Kämpfen auf der Suche nach Beteiligung der Bevölkerungen sein sollten.Die Machtergreifung über die Völker Europas durch das internationale Finanzsystem ist eine traurige Realität geworden.

Die Lateinamerikaner sind in ihrer Haltung der Selbstbehauptung aktiver und effizienter als die müden Führer des europäischen Kontinents.

Es ist Zeit, mit unseren eigenen Werten zu denken. Diese Werte überlebten die Jahrhunderte der Unterdrückung

in vielen Kämpfen. Die Kolonisatoren waren nicht in der Lage, die bestehenden nationalen Identitäten auf diesem schönen und jugendlichen Kontinent vollständig zu unterdrücken.

*Claudio Lembo ist Rechtsanwalt und Universitätsprofessor. Er war Vize-Gouverneur von São Paulo von 2003 bis 2006.

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