Montag, 5. März 2012

Dilma Rousseff: Eine Frau, drei Leben



Sie hat die Folter überstanden, den Krebs besiegt und so vieles hinter sich gelassen. Dann wurde Dilma Rousseff Brasiliens Präsidentin. Für ihre alten Freunde ist das wie ein Wunder.

Von Peter Burghardt Süd Deutsche Zeitung

Fortaleza - Auch diese Pflicht in ihrem neuen Leben erträgt sie stoisch. Sie ist für ihre Verhältnisse sogar leutselig, gestikuliert, umarmt, wirft etwas ungelenk Küsse ins Publikum. Dilma Rousseff, Brasiliens Präsidentin, mag diese Bäder im Volk so wenig wie ein Nichtschwimmer das Meer; ihr fehlt dafür das Talent ihres Vorgängers Lula. Es heißt, sie leide unter solchen Terminen, aber das ist vermutlich übertrieben. Leiden haben für diese 64 Jahre alte Frau eine andere Bedeutung. Sie litt unter den Folterknechten der Militärdiktatur, die sie wochenlang quälten. Sie litt, als auf dem Weg zur Präsidentschaft bei ihr Lymphdrüsenkrebs entdeckt wurde.

Jetzt weiht sie eine U- Bahn ein.

Es ist ein schwüler Vormittag in Brasiliens ärmlichem Nordosten, aus schweren Wolken prasselt warmer Regen. Am Morgen war die Staatschefin im trockenen Brasilia abgeflogen, 2000 Kilometer weit weg, für brasilianische Verhältnisse eine Mittelstrecke. Nun steigt Dilma Rousseff aus einer grün-weißen U-Bahn, die künftig den Vorort Maracanaú mit der Hafenstadt Fortaleza verbinden wird. Die Staatschefin trägt eine dunkel gemusterte Bluse, glänzende Ohrringe und eine wetterfeste Frisur. Sie ist eine energische Erscheinung und sie sieht auch aus der Nähe wieder verblüffend gesund aus.

'Es gab eine Zeit in Brasilien, als man sagte, Brasilien ist arm und braucht keine U-Bahn', sagt sie und hebt die Zeigefinger. 'Da hatten andere Länder schon lange U-Bahnen, und wir dachten, das sei Luxus. Aber Brasilien hat sich verändert.'

Und wie sich Brasilien und Dilma Rousseff verändert haben. Seit 14 Monaten dirigiert erstmals eine Präsidentin die sechstgrößte Volkswirtschaft mit ihren 192 Millionen Menschen. Während Europa schwächelt, steckt Brasilien Milliarden aus seinen Rekordgewinnen in Sozialprogramme und Infrastruktur. Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 stehen an, und vor der Küste wurden enorme Mengen Öl entdeckt. Fünf Projekte besichtigt Dilma Rousseff an diesem Tag und anderntags zwei weitere in Recife, 800 Kilometer entfernt. Als eine Reporterin nach der Opposition fragt, da verdreht sie die Augen und brummt mit ihrer strengen Bassstimme: 'Ich rede heute nicht über Angela Merkel', Angela klingt bei ihr wie 'Anschela'. Die Antwort soll ein Scherz sein und bedeuten, dass sie in diesem Moment über die U-Bahn und Fortaleza sprechen will - und über nichts anderes. Nicht über Politik, brasilianische oder internationale. Vielleicht kam ihr der Scherz mit Merkel auch deshalb in den Sinn, weil sie die deutsche Kanzlerin bald sehen wird. Rousseff und Merkel treffen sich zur Computermesse Cebit in Hannover. Brasilien ist Ehrengast, an diesem Montag wird die Messe eröffnet. Mit Rousseff.

Alle Welt will mittlerweile mit Brasilien Geschäfte machen, und mit Dilma Rousseff ins Gespräch kommen. Ende März wird sie bei einem Gipfel in Delhi auftreten und im Juni als Gastgeberin einer UN-Versammlung. Zwischendurch lädt Barack Obama nach Washington.

Es ist wirklich eine neue Zeit für Brasilien und Dilma Rousseff, so als sei manches gar nicht geschehen. Doch auch die Erinnerung lebt noch, zum Beispiel in einem kleinen Haus in São Paulo.

Dort sitzt Rose Nogueira, eine Journalistin im Rentenalter und Leiterin der Vereinigung 'Nie wieder Folter'. Im Februar 1970 begegnete ihr die junge Dilma Rousseff das erste Mal. 'Sie sah erschrocken aus und abgemagert, aber sehr stark', sagt sie. Dilma Rousseff landete in jenem Kerker, in dem Rose Nogueira und andere bereits saßen, dem Gefängnis Tiradentes von São Paulo. In Brasilien herrschte die Armee, die Häftlinge waren Mitglieder der Guerilla und für den Staat Terroristen. Rose Nogueira brauchte die Neue nicht zu fragen, woher sie kam und was ihr passiert war. Jeder hier kam aus der Hölle.

Dilma Rousseff war 1947 in Belo Horizonte geboren worden, als Tochter einer Brasilianerin und eines Bulgaren. Nach dem Militärputsch 1964 schloss sich die Studentin der Wirtschaftswissenschaften dem Widerstand an, ging 1967 in den Untergrund und versteckte für die Rebellengruppe VAR-Palmares Waffen. Sie bekam die Decknamen Vanda, Luiza, Estela. Bei einem geheimen Treffen ging sie ihren Jägern ins Netz, sie war 22.

Das Häftlingsfoto zeigt sie mit Wuschelkopf und Hornbrille. Es begannen die Verhöre und Qualen. Erst im Operação Bandeirantes, dem schlimmsten Folterkeller, dann beim Geheimdienst Dops. Die Gefangenen wurden nackt an Eisenstangen gehängt wie im Schlachthaus und geprügelt. 'Papageienschaukel', nannte sich das. Stromstöße aus Kabeln durchzuckten den Körper, dieser Apparat war der 'Drachenstuhl'. 'Da urinierst du, scheißt du, alles', hat Dilma Rousseff 2005 der Zeitung Folha de São Paulo erzählt, nach langem Schweigen. Sie wurde nach der Marter in ein verdrecktes Bad geworfen. 'Mit Blut, allem. Du zitterst stark, dir ist sehr kalt. Ich lag lang da wie ein Fötus.'

So ging das 23 Tage lang, die Peiniger holten sie immer wieder ab. 'Sie beweisen dir, dass sie die Macht über deine Schmerzen haben', berichtete Dilma Rousseff. Sie verriet dennoch niemanden - ihr Mitstreiter und späterer Mann Carlos Araújo alias Max geriet nachher dennoch in die Fänge der Junta. 'Sie zeigt keine Reue', tippten Polizisten ins Protokoll der Dilma Vana Rousseff Linhares. Sie wurde verurteilt und für drei Jahre in die Strafanstalt Tiradentes gesperrt.

Sie sprachen dort kaum über die Folter, das kam viel später. Sie hatten ja alle ungefähr dasselbe erlebt.

Rose Nogueira ist noch lange nach ihrer Freilassung oft schreiend aufgewacht. Sie hatte vor ihrer Verhaftung ein Mädchen geboren, und konnte danach nie mehr Kinder kriegen, die Stromschläge zerstörten ihre Gebärmutter. Das modrige Gefängnis Tiradentes war nach der Folter ein vergleichsweise guter Ort. Dutzende Frauen teilten sich die Zelle 6, diskutierten, kochten, putzten, bastelten, sahen fern und bekamen Besuch. Ihr Bereich lag in einem Turm der Anlage und trug den Titel 'Torre das Donzelas', Fräulein-Turm.

Dilma Rousseff stickte, las in Wirtschaftsbüchern und gab Lektionen. 'Studieren ist revolutionäre Pflicht', belehrte sie die anderen. Und: 'Das Leben verlangt Mut'.

Rose Nogueira sagt: 'Dilma ist ständig mit Büchern herumgelaufen. Sie hat schlecht gekocht und gut gesungen.' Als Rose Nogueira nach drei Monaten entlassen wurde, da sang ihr die Gefährtin Rousseff ein Volkslied. 'Minha Jangada vai sair pro mar', singt Rose Nogueira, 42 Jahre später in ihrem Haus in São Paulo. 'Mein Segelboot fährt hinaus aufs Meer. Ich werde arbeiten, meine Liebe. Wenn Gott will, dann kehre ich vom Meer zurück. Einen guten Fisch bringe ich mit.'

Jahrzehnte danach sahen sich die Frauen aus dem Fräulein-Turm wieder, Dilma Rousseff war schon eine Spitzenpolitikerin im demokratischen Brasilien. Es regierte Luiz Inácio Lula da Silva, der ehemalige Schuhputzer, Dreher, Streikführer und Gründer der Arbeiterpartei PT. Lula machte die resolute Funktionärin Rousseff aus Porto Alegre zur Energieministerin, Kabinettschefin und 2009 zur Kandidatin für seine Nachfolge. Die meisten Landsleute kannten sie kaum, neben Lula wirkte die Akademikerin furchtbar langweilig. Und vor dem Wahlkampf ereilte sie die Schreckensmeldung: Ihr Geschwür unter der Achsel war ein bösartiges Lymphom. Lymphdrüsenkrebs. 'Ruhig, Dalminha, ruhig', sagte Lula damals. 'Du bist stark. Du schaffst es.'

Sie setzte eine Perücke auf, als Chemotherapie und Bestrahlung die Haare ausfallen ließen. Nach der Behandlung wuchsen sie wieder, und der Genesung folgte die Verwandlung von der Guerillera und Technokratin zur Mutter der Republik. Ein Starfriseur verpasste ihr einen neuen Haarschnitt. Ein Schönheitschirurg glättete die Gesichtshaut. Kontaktlinsen ersetzten die Brille. Ein Modemacher suchte klassische Garderobe mit klaren Farben aus. Die Bewerberin feilte an ihrer Rhetorik, sprach einfachere Sätze. Brasilien ist ein Land des Fernsehens, und die Brasilianer waren den Unterhalter Lula gewohnt.

Bei der Stichwahl 2010 bekam Dilma Rousseff 55,7 Millionen Stimmen, Lulas Anhänger wählten sie alle. Am 1. Januar 2011 beerbte sie ihren Mentor, der inzwischen an Kehlkopfkrebs erkrankt ist. Gemeinsam mit ihrer Tochter fuhr die Staatsfeindin von einst im offenen Rolls Royce durch Brasilia. Rose Nogueira und andere Mitgefangene waren zur Amtsübergabe geladen.

Plötzlich standen die Frauen aus dem Gefängnisturm auf dem Marmor im Regierungssitz Palácio do Planalto, dem Palast der Hochebene mit seiner geschwungenen Fassade. Dort, wo der General Emílio Médici die Jagd auf Andersdenkende wie sie organisiert hatte. Die Porträts von 34 Präsidenten hängen drinnen an der Wand - Nummer 35 ist sie, Dilma Rousseff, eine geschiedene Ökonomin, eine ehemalige Rebellin, eine Überlebende.

Sie zog mit ihrer Mutter in die Residenz Palácio da Alvorada, den flachen Palast der Morgenröte, wie alle wichtigen Gebäude Brasilias entworfen von dem kommunistischen Architekten Oscar Niemeyer.

'Wir haben gewonnen', sagt Rose Nogueira auf ihrem Sofa. 'Kaum zu glauben, dass ich das erleben darf.' Ihre Zellenfreundin Dilma steuert Brasilien. 'Wir erleben einen der besten Momente des nationalen Lebens', sprach Dilma Rousseff zum Einstand. 'Tausende Arbeitsplätze werden geschaffen, unser Wachstum hat sich verdoppelt, wir haben unsere Auslandsschulden überwunden und Millionen Brasilianer aus der Misere befreit. Ich werde nicht ruhen, solange es Brasilianer ohne Essen auf dem Tisch gibt und Menschen auf der Straße leben.'

Die üblichen Versprechen, aber Brasilien kam unter Lula und Dilma tatsächlich voran. Rose Nogueira sagt, ihre Putzfrau habe einmal am Telefon geweint. Als sie sich erkundigte, was los sei, da antwortete die Angestellte: Ihr Bruder im Bundesstaat Pernambuco habe gerade seinen ersten Stromanschluss bekommen und könne warm duschen, im Jahre 2011.

Manchmal gibt Dilma Rousseff noch die Revolutionärin. Sie feuerte korrupte Minister, da war Lula sanfter. Sie rückte Frauen an die Spitze mehrerer Ministerien und des Ölkonzerns Petrobras. Sie flog statt zum Weltwirtschaftsforum nach Davos zum Weltsozialforum nach Porto Alegre und schimpfte auf die gescheiterten Rezepte der europäischen Krisenmanager. Gerade klagte sie über den 'geldpolitischen Tsunami' der Industrienationen, der zum Schaden der Schwellenländer die Märkte überflute, auch Angela Merkel wird den Vorwurf zu hören bekommen. Dilma Rousseff traf Kubas Fidel Castro, Vietnams US-Bezwinger Nguyen Giap, den krebskranken Hugo Chávez aus Venezuela sowieso. Von Irans Mahmud Ahmadinedschad wandte sie sich ab, mit Folterregimen will sie nichts zu tun haben. Die Verbrechen der brasilianischen Diktatur soll endlich eine Wahrheitskommission prüfen, was Opfer begeistert und Täter erzürnt. Ein General der Reserve sagte, er warne vor Recherchen und bezweifle, dass die Präsidentin wirklich gefoltert worden sei. Und als ein Oppositioneller erklärte, Rousseff lüge genauso wie seinerzeit hinter Gittern, da sagte sie wütend: 'Wer während der Folter Courage und Würde hat, der lügt. Ich bin immens stolz darauf, dass ich gelogen habe, weil ich Genossen vor derselben Folter und dem Tod gerettet habe.'

Das Folterzentrum Dops ist heute ein Museum, auch die Namen Dilma und Rose sind in eine Zellenwand geritzt. Das Gefängnis Tiradentes wich einer Bank, einer Galerie und einer Wache der Militärpolizei. Nur ein steinernes Portal blieb stehen. Wie ein Zeichen aus Dilma Rousseffs und Brasiliens Vergangenheit.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…
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